Die Flechte, eine Symbiose aus Alge und Pilz

In nahezu all diesen Wald- und Wiesenlandschaften Skandinaviens sieht man an den Nadelbäumen Bartflechten.



- Bartflechte -

Die meisten Steine sind von den verschiedensten, farblich oft lebhaften, scheinbar haltlosen Flechten überzogen - manchmal flach an den Fels gepresst und bisweilen mit regelrecht abstehenden Wuchskanten und / oder Blättern ausstaffiert. Flechten reagieren äußerst empfindlich auf Ihre Umwelt, insbesondere auf Schadstoffe in der Luft; ein gutes Flechtenwachstum ist somit ein Zeichen für verhältnismäßig saubere Luft.



- Fokklav (ohne deutschen Namen)-



- Braune Flechte auf Stein -



- Rentierflechte -



- Rentierflechte -

Mit den Flechten kommen wir dem Thema Pilze schon sehr nahe. Ich möchte mich ihrer bedienen, um ein Zusammenspiel, welches in der Natur so unendlich kompliziert und komplex abläuft, zu verdeutlichen. Ein Paradebeispiel, um aufzuzeigen, wie die Natur es immer wieder schafft, Nischen zu finden, in denen Leben auch unter Extrembedingungen möglich ist.

Flechten sind keine eigenständigen Pflanzen. Sie sind Symbioseverbindungen verschiedener Algen mit einem jeweils auf die Bedürfnisse der Alge besonders eingestellten Pilz.



- Trompetenflechte -



- Trompetenflechte -

Diese Pilze sind natürlich extrem kleinwüchsig und nicht als Bereicherung unseres Speisezettels gedacht, zumindest nicht allein.



- Rentierflechte mit Alpenbeerentraube -



- Blattflechte -

Während man sich über den Genuß einiger größerer Flechten (z.B. der Rentierflechte ) in Outdoorsituationen schon Gedanken machen kann - und mit der Alge dann evtl. auch den Pilz verzehrt -, erkennen wir den Pilz in der Flechte, z. B. bei der Trompetenflechte nur, wenn rote oder braune Punkte oben auf der Trompete erblühen. Diese "Blüten" zeigen uns, dass der Pilz seine Sporenproduktion begonnen hat, die zur Vermehrung und Arterhaltung notwendig ist.



- Roter Pilz auf Trompetenflechte -

Die Symbiose von Alge und Pilz schaffte es, eine Pflanzenwuchsform zu entwickeln, die so robust ist, dass sie allen Widrigkeiten der Natur zum Trotz selbst in extremsten Umweltregionen überlebt und so den Nährboden für alle nachfolgenden Lebewesen und Pflanzen bereitet.

Weitere sporenproduzierende Pflanzen sind Moose und Farne; diese Pflanzengruppe nennt man wissenschaftlich auch kryptogam. Sie alle gehören als "Überlebenskünstler der Natur" zu den sogenannten Pionierpflanzen, ein Begriff, der viele verschiedene Pflanzengattungen, aber auch viele Pilze mit einschließt. Auch die bereits höher entwickelten Pflanzen wie z. B. die Steinbrechgewächse und der Löwenzahn zählen dazu. Aus der Gattung der Bäume gesellen sich die Birken, Erlen und Weiden und andere zu dieser Familie. Pionierpflanzen deshalb, weil sie Standorte besiedeln können, die man auch als lebensfeindlich bezeichnen könnte.

Zum Beispiel sei hier Magerøy, die "Nordkap-Insel", die als baumlos gilt, herausgegriffen. Dort wachsen Zwergbirken in unglaublich dichten Rasen. Wenn man ihr am Boden liegendes Geäst einmal aufstellt, erkennt man, dass die liegenden Bäume ohne weiteres bis zu einem Meter hoch werden, sich dann aber gegen den allgegenwärtigen Wind nicht behaupten könnten. Nur liegend konnten sie die Insel und ihre Hochebenen erobern. Diese riesigen Zwergbirkenrasen schützen wie unsere Wälder die karge Bodenschicht, halten die Erde fest und ermöglichen weiteren Strauch- und Blütenpflanzen die Ansiedlung im geschützteren Untergrund. So ist es auch zu verstehen, dass die Insel eine gute Weide für Rentiere geworden ist.

Zurück zu unseren Flechten, wir erkennen also, dass es im Wesentlichen die miteinander verbundenen Eigenschaften der beiden an sich völlig eigenständigen Pflanzenformen Alge und Pilz sind, die ein solches Outdoorleben möglich machen. Diese unterschiedlichen Charakteristika, die sich so oder in ähnlicher Form in allen Pilzen und Pflanzen auch der höheren Arten wiederfinden lassen, möchten wir hier gerne vorstellen:

Flechten siedeln auf nacktem Stein, wie geht das, wo Flechten doch keine Wurzeln haben ?

Das stimmt nur bedingt. Der Pilzpartner der Flechte hat sehr wohl ein winzig feines, filigranes Geflecht, das wir Menschen allerdings mit bloßem Auge nicht erkennen können. Man nennt dieses Pilzgeflecht in der Fachsprache Myzel und es beinhaltet auch die eigentliche Pilzpflanze. Dieses Myzel setzt sich aus Fäden zusammen, die nur wenige tausendstel Millimeter (µ) groß sind und sich aufgrund dieser Kleinheit in Spalten und Gesteinsrissen festklammern können.

Von was ernähren sich die Flechten in einem Gebiet, in dem es eigentlich keine Nahrung gibt?

Ein Pilz ist eine der großartigsten chemischen Fabriken, die wir kennen. Die winzig kleinen Myzelfäden sind in der Lage, aus dem nackten Gestein sowohl Wasser als auch anorganische Elemente und Mineralstoffe herauszulösen und sie dem Partner, der Alge, als Nachschub anzuliefern. Gleichzeitig produzieren sie Abwehrstoffe (Antibiotika wie das berühmte Penicillin u.a.) gegen die verschiedensten Krankheiten, die den Partner befallen können, und halten diesen auf diese Weise gesund und vital.

Anorganische Stoffe sind jedoch für die meisten lebenden Organismen der Erde nicht verwertbar, so auch nicht für die Pilze. Wie werden diese Materialien jedoch verarbeitet, damit die Pflanze sich davon ernähren kann?

Die ganze Arbeit der Pilze wäre umsonst, gäbe es die Alge als Grünpflanze nicht, die mit Hilfe der sogenannten Photosynthese, d. h. Blattgrün (Chlorophyll) + Kohlenstoff + Sonne, die anorganischen Substanzen in organische Verbindungen, also Kohlenhydrate, Zucker und Stärke umwandelt. Gleichzeitig entsteht bei dieser Prozedur auch neuer, frischer Sauerstoff, sozusagen als Abfallprodukt, ohne den die Fauna, sprich Tier und Mensch, keinerlei Überlebenschance hätte.

Und weil die Nahrungsproduktion der Pflanzen, egal ob bei Algen, Gräsern oder Bäumen, fast immer einen deutlichen Überfluss erzeugt, wird dieser über die Kapillarröhrchen aus dem Blatt- bzw. Grünbereich der Pflanze ins Wurzelsystem ( bei Bäumen ) bzw. in die Uralgenzelle zurückgeführt und dort ausgeschieden. Dort sitzt jetzt der Pilz und holt sich sozusagen seinen Anteil.

Man könnte dieses Zusammenspiel der beiden Partner auch ganz einfach auf folgenden Nenner bringen: "Gibst Du mir ein paar Bröckchen Salz, dann gebe ich Dir ein paar Stückchen Zucker."

Eine nahezu perfekte lebenslange Pflanzengemeinschaft, die auf Gedeih und Verderb zusammenhält, ist so entstanden, und wir nennen sie Flechte.

Dieser Exkurs in die Welt der Flechten hatte noch einen anderen Zweck. Er sollte aufzeigen, wie lebensnotwendig Symbiosen sind; und fast alle Lebewesen müssen irgendwie, bewusst oder unbewusst, Symbiosen eingehen, denn dadurch ist Leben überhaupt erst möglich.

Hier zeigt sich uns auch, dass die Pilze, in welcher Form auch immer, stets mit dabei sind, wenn es darum geht, neue Ufer zu erklimmen und neue Gebiete zu erobern, um sie dann langsam über Jahrmillionen hinweg Stück für Stück für höher entwickelte Formen des Lebens urbar zu machen.

Landschaft mit Rentierflechte

Rentierflechte,
hier aspektbildend im Kiefern-/Fichtenwald
auf Granit- / Urgestein bei "Jutul-hogget" (Schlag der Riesen)
in Østerdalen, Norwegen

Anhand der Rentierflechte können wir erkennen, wie wichtig diese Pilz-Algen-Verbindung auch für uns höhere Wesen werden kann, wollen wir im harten Winter des Nordlandes überleben. Denn auch wir partizipieren direkt oder indirekt an der Nährstoffproduktion, die die Pflanzen im Laufe einer Vegetationsperiode aufgebaut haben: Pflanze => produziert Nährstoffe => Tier frisst Pflanze => Mensch isst Pflanzen und Tiere und benutzt die Inhaltsstoffe von z. B. Isländischem Moos ( auch eine Flechte und kein Moos ! ) und der Rentierflechte als Heilmittel bei der Bekämpfung von Erkältungskrankheiten und Husten.

Junge Rentierflechte

Junge Rentierflechte,
Mai 2001
in der Nähe von Vorupør auf Jütland, Dänemark
© 2001 by Erika Westerwalbesloh, Düsseldorf